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Aktuelles

01.12.2015 | Integration

Beschluss: Schluss mit den Nebelkerzen – Ruhe und Stringenz in der Flüchtlingspolitik

Beschluss des Bundesvorstands der AG Migration und Vielfalt zu aktuellen Debatten um die Asyl- und Flüchtlingspolitik


Zu Recht wird immer wieder nach Haltung und klarer Linie gefragt, wenn es um die Flüchtlingspolitik geht. Die pogromartige Stimmung der 1990er Jahre ist vielen noch im Erinnerung und die steigende Zahl an Übergriffen auf Flüchtlingsheime und Geflüchtete weckt berechtigte Ängste. Ein Blick auf diverse Umfragewerte und Studien zeigt, wie sehr eine progressive Haltung wichtig ist.


Wir leben in einer 30-40-30 Gesellschaft: 20 bis 30% der Deutschen sind euphorisch und positiv gesinnt, wenn es um die Einstellung zur Einwanderungsgesellschaft geht. Auf der anderen Seite stehen 20 bis 30% der Deutschen der Vielfalt in der Gesellschaft skeptisch bis offen rassistisch und ablehnend gegenüber. Beide Blöcke lassen sich kaum bewegen. Beweglich ist hingegen die Mitte. 40% in der sogenannten Mitte, die nach Orientierung sucht. Diese Zielgruppe müssen politische Akteure im Blick haben, wenn verhindert werden soll, dass die Stimmung kippt. Diese Gruppe muss für eine offene Gesellschaft gewonnen werden.


Was passiert, wenn dies nicht geschieht, zeigt ein Blick auf unser Nachbarland Frankreich. Die Vorsitzende des rechtsextremen Front National Marine Le Pen schaffte es in den letzten Jahren Diskurse negativ zu prägen und die gesellschaftliche Haltung zur Asyl- und Flüchtlingspolitik zu kippen. Ihre klare Haltung hat dazu geführt, dass die Mitte bröckelt. In diesem Fall leider in die falsche Richtung. Gleichzeitig laufen die bisherigen Volksparteien ihren Botschaften hinterher. Das darf uns in Deutschland nicht passieren. Gerade die progressiven Kräfte unserer Gesellschaft sind gefordert, Orientierung zu geben. Nur so lässt sich die noch unentschlossene Mitte für ein weltoffenes Deutschland gewinnen. Betrachten wir jedoch das letzte Jahr in der Flüchtlingspolitik, fällt eine Politik ins Auge, die Achterbahnen statt eindeutige Linie zeichnet. Beispiele dafür gibt es viele:


1. Sachleistungsprinzip: im Rahmen des Reformpakets im Juli 2015 wurde das Sachleistungs-prinzip, Mit der Argumentation, dass der Verwaltungs- und Bürokratieaufwand sehr hoch sei, aufgegeben. Hinzu kam die sozialdemokratische Argumentation, den Menschen das Recht zu geben, sich selbstbestimmt ernähren und versorgen zu können. Mit der Reform Ende Oktober, d. h. gerade einmal drei Monate später, hat die Bundesregierung, um den Verwaltungs-aufwand wissend, das Sachleistungsprinzip als Soll-Bestimmung wieder eingeführt.


2. Familiennachzug: die SPD hat im Sommer durchgesetzt, dass die restriktive Ausnahmeregelung beim Familiennachzug für subsidiär Geschützte weggefallen ist. Zu Recht wurde dieser Schritt als bedeutender menschenrechtlicher Fortschritt gefeiert. Die Bundesregierung will nun mit einem neuen Gesetzesvorhaben diese Errungenschaft kippen. Betrachtet man, dass diese Regelung nicht einmal 2.000 Menschen betrifft, stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit.


3. Integrations-und Sprachkurse: die Erweiterung der Teilhabemöglichkeit von Geflüchteten an Integrations-und Sprachkursen schmückte im letzten Jahr viele Papiere der Bundesregierung. Berechtigterweise, wenn man sich gerade Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zukunft macht. Konträr zu diesem Ziel steht ein neuer Reformvorstoß, der vorsieht, dass Geflüchtete von dem Wenigen was sie erhalten, einen "solidarischen Beitrag" (wie es der Gesetzesentwurf euphemistisch nennt) zur Finanzierung der Kurse leisten sollen. Der Sinn, gerade solch ein Integrationshindernis aufzubauen, erschließt sich nicht wirklich. Insbesondere im Anbetracht der Tatsache, dass dieser kleine Gesamtbeitrag den Haushalt kaum spürbar berühren wird. Besser kann man Integrationsanstrengungen nicht sabotieren.


4. Verfahrensdauern: im Koalitionsvertrag wurde noch festgehalten, dass Asylverfahren möglichst innerhalb von drei Monaten beendet sein sollen. Es ist nichts weiter als eine Kapitulationserklärung, dass die Bundesregierung jüngst die maximale Verweildauer in Erstaufnahmeeinrichtungen auf sechs Monate hochsetzte. Für die Verkürzung der Verfahrensdauer wurde eine deutliche Aufstockung der Stellen beim BAMF beschlossen. Auch dieser Stellenaufbau geht nur sehr schleppend voran.

5. Asylbewerberleistungsgesetz: die Bundesregierung ist im Laufe des Jahres dem eindeutigen Votum des Bundesverfassungsgerichts gefolgt und hat die Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz so angepasst, dass ein menschenwürdiges Leben möglich ist. Das Bundesverfassungsgericht machte im Rahmen seines Urteils aus dem Jahr 2012 zum Asylbewerberleistungsgesetz deutlich, dass die "in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde (…) migrationspolitisch nicht zu relativieren" sei. Im Rahmen der letzten Reform im Oktober wurde jedoch ein "physisches Existenzminimum" für bspw. vollziehbar Ausreisepflichtige definiert. Zahlreiche Juristinnen und Juristen gehen derzeit davon aus, dass diese Regelung vom Bundesverfassungsgericht gekippt werden wird.


6. Geflüchtete aus Syrien: aufgrund einer sehr hohen Anerkennungsquote für Geflüchtete aus Syrien wurden die Dublin-Verfahren für selbige außer Kraft gesetzt, d. h. auf Rücküberstellungen in den Einreisestaat in Europa und auf individuelle Prüfungen wurde verzichtet. Gerade vor dem Hintergrund des hohen Bearbeitungsstaus beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) war dies eine notwendige Vorgehensweise. Nun aber sollen Dublin-Verfahren wieder durchgeführt und auf eine individuelle Prüfung umgestellt werden. Dass das BAMF an der aus dieser Vorgabe resultierenden Arbeit zu ersticken droht, scheint den verantwortlichen Innenminister wenig zu interessieren. Hinzu kommen weitere Verkomplizierungen der Arbeit des Bundesamtes durch andere Regelungen.


Dies sind nur einige Beispiele, die belegen, dass die vermeintliche Standhaftigkeit der Bundeskanzlerin nichts weiter als ein Märchen und heiße Luft ist. Haben wir Merkels zumindest verbale Standhaftigkeit bis vor einigen Wochen noch gelobt, müssen wir heute feststellen, dass sie inhaltlich weitgehend sinnfreien Diskussionen beispielsweise um Transitzonen oder Obergrenzen keinen Riegel vorschiebt, sie gar einfach laufen lässt und am Ende mit dem rechtspopulistischen Flügel in der Koalition Frieden schließt, der - wie oben aufgeführt - ein klares Bekenntnis vermissen lässt und zum Erstarken der Rechtspopulisten führt. Merkel muss nicht mehr einknicken. Wo keine Linie zu finden ist, es keine Richtung gibt, gibt es auch kein Einknicken.


Zu den sinnfreien Vorschlägen gehört momentan die Diskussion um die Schaffung von Fluchtalter-nativen für Geflüchtete aus Afghanistan, um Rückführungen dorthin durchzuführen. Das Auswärtige Amt führt im Hinblick auf die Sicherheitslage in Afghanistan indes auf: "Der Aufenthalt in weiten Teilen des Landes bleibt gefährlich." Während die Taliban wieder auf dem Vormarsch sind, breitet sich der Islamische Staat im Osten des Landes aus. In solch ein Land darf nicht abgeschoben werden.


Eine weitere Nebelkerze ist der Diskurs um Kontingente. Noch im Sommer wurde die rechtliche Basis für Resettlement-Programme gefestigt. Hiermit sind Kontingente, wie schon bei syrischen Flüchtlingen, möglich. Jede weitere Diskussion um diese Begrifflichkeit vermittelt bewusst das Gefühl, es gäbe Wege für Obergrenzen, die es rechtlich und praktisch aber nicht gibt. Auch diese Nebelkerze lehnen wir ab. Dankbar können wir den Akteurinnen und Akteuren der Zivilgesellschaft sein, die an vielen Orten auf die Straße gehen, wenn Rechtsextreme und Rechtspopulisten die Stimmung zu vergiften versuchen und anpacken, wenn bei der Aufnahme von Geflüchteten Hilfe benötigt wird. Aber diese zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure scheinen zunehmend erschöpft und enttäuscht von dem politischen Wirrwarr. Deswegen bringen Dankesbotschaften allein kaum etwas. Notwendig sind endlich mehr Sachlichkeit und Ruhe in die Flüchtlingsaufnahme und die Konzentration auf die Instrumente, die tatsächlich Verfahren beschleunigen, d. h. unbedingt erforderlich ist es, früh Perspektiven zu geben und die Solidarität bei der Aufnahme der geflüchteten voranzubringen. Alles andere sind nur Nebelkerzen, die den Rechten in die Hände spielen. Zeigen wir Haltung, geben wir Orientierung und gewinnen die gesellschaftliche Mitte für unser weltoffenes Deutschland.


Beschlossen am 29. November 2015 in Frankfurt am Main

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